Dienstag, 8. Oktober 2013

Fragen

Willkommen bei den Blogseiten einer Spracharbeiterin. Hier lesen Sie, was uns beruflich so umtreibt. Heute: Blick auf den Schreibtisch.

Vorhin begegnete mir auf dem benachbarten Markt am Ufer ein Mädchen im Sweat­shirt mit dem Aufdruck: "Nie wieder lernen!" Sie sah aus wie eine der frisch­ge­backenen Abi­tu­rientinnen, die bald zu studieren anfangen. Schon me­ga­be­sch...euert, wenn unsere Bildungsstätten den natürlichen Impuls des Menschen, Neues zu erfahren, derart ersticken.

Unsereiner lernt nie aus. Alle Naslang lerne ich neues Vokabular. Im Januar stand Rechtsextremismus auf dem Programm, im Februar Kino, Filmwirtschaft und Mo­bi­li­tät von Migranten, im März Marketing sowie ein medizinisches Thema, im April waren es Design, Tourismus und Nordafrika, ab Mai ging es verstärkt um Fra­gen der Steuergerechtigkeit, die binären Ausbildungsformen sowie die be­ruf­li­che In­te­gra­tion von benachteiligten Jugendlichen, im Juni stand wieder Nordafrika auf dem Programm, zudem Historisches aus Berlin, Homoehe, Finanzmarktkrise und Film­ge­schichte.

Nach der Sommerpause drehte sich alles um: Transition der Wirtschaft, nach­hal­ti­ger Landbau, Psy­cho­lo­gie, Afrika, Wahlen, Bildung, Volkswirtschaft, Bergbau.

Zwischendurch kommen Projekte wie Koproduktions- und Gesellschafterverträge, die Digitalisierung von Kinos und Personalmanagement aufs Tapet, oder aber es ging um die Ausfuhr von Notstromaggregaten aus dem europäischen Raum.

Jetzt brüte ich einen Tag lang über dem Thema Genitalverstümmelung. Das und was in den Nachrichten läuft, geht mir durch und durch. Schon oft habe ich zu den Themen Migration, Flucht, Lampedusa und versiegende Lebensgrundlagen nord­afri­ka­ni­scher Fischer gedolmetscht, am Projekt "Die Farbe des Ozeans" von Maggie Pe­ren mitgearbeitet, der erst im August bei Arte lief und zum Film "La Pirogue" von Moussa Touré durfte ich Publikumsgespräch übertragen. Für alle Berliner: Der Film läuft morgen im Rahmen der Reihe "Film gourmand" im Lichtblick-Kino.

aus "Die Farbe des Ozeans" von Maggie Peren (2012)
Als Dolmetscherin stellen sich mir diverse Fragen. Eine, die die Gesellschaft betrifft: Was vor Lampedusa passiert, und es ist ja nicht das erste Mal, ist unterlassene Hilfeleistung. Der eingemauerte Norden macht sich mitschuldig. Wie weiter? Dann eine, die mich persönlich betrifft: Je mehr Themenbereiche ich be­ar­bei­te, desto mehr weiß ich.

Der Begriff "wissen" trifft es aber nicht ganz. Ich beschäftigte mich intensiv mit den Themen und vertone meine Kundschaft sicher auch mit einem großen Maß an Empathie, an Identifikation, denn um so gut wie möglich in ihrem Namen sprechen zu können, "schlüpfe" ich manchmal, so kommt es mir jedenfalls oft vor, "in sie hinein". Und je mehr ich von der Welt mitbekomme, desto ver­letz­barer fühle ich mich. Was macht das mit mir? Wie gehe ich damit um?

Und am Ende noch eine nicht ganz ernst gemeinte Frage: Was müssen wohl die gegebenenfalls mitlesenden Nachrichtendienste von mir halten? Wie versuchen sie sich da, ein kohärentes Bild zusammenzureimen?

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Foto: Movienet Filmverleih

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