Dienstag, 4. Juni 2013

Struktur und Detail

Guten Tag oder gu­ten Abend! Auf die­sen Sei­ten schrei­be ich über den All­tag aus Sprach­mittler­sicht. In der Welt der Über­setzer und Kon­fe­renz­dol­metscher ist einiges anders als draußen, sogar das Hören.

Auf Sendung! Das rote Licht der Dolmetschanlage leuchtet ..."Vielen Dank für Ihre Arbeit!", sagt das 'Zielohr' am Eingang unserer 2,56 Quadratmeter kleinen Box, verabschiedet sich mit Handschlag und wünscht uns noch einen schö­nen Tag. Das Wort Zielohr hat neulich Sarah aufgebracht, sie hat es von irgendeiner Eng­lisch-Kabine, the target ear, eine Übertragung von target language, der "Zielsprache".

Bei EU-Seminaren, Euro-Betriebsratssitzungen sowie kleinen Konferenzen lernen wir die zwei, drei Personen schnell kennen, für die wir bei den oft mehrtägigen Veranstaltungen tätig werden. Etliche andere sprechen und verstehen so gut die allgemeine Schnitt­men­gen­spra­che Englisch, dass sie die Kopfhörer nicht brauchen. Zwischendurch wird aber z.B. auch Deutsch im Raum gesprochen, Polnisch oder Italienisch, da greift dann die ganze französischsprachige Welt im Raum zu den Lauschern.

Regelmäßig haben wir also eine oder zwei Personen, die in der Kommunikation voll von uns abhängen, unlängst gab es DAS EINE Zielohr (als Mensch mit zwei Ohren, bien sûr), und wenn die Betreuung z.B. bei Betriebsbesichtigungen oder Au­ßen­ter­mi­nen anderer Art individuell ist, werden wir am Ende oft persönlich ver­ab­schie­det. Bevor es geht, sagt das Zielohr also noch einen freundlichen Satz zu unserer Arbeit: "Ich weiß gar nicht, wie Sie das machen, gleichzeitig hören und sprechen gleichzeitig!"

Den Satz kennen wir gut. Darauf können wir oft nicht viel sagen, außer: "Wir wis­sen es selbst nicht, aber es funktioniert." Im Grunde ist Dolmetschen kein Zwei­fach-Multitasking, sondern es kommen fünf oder sechs Ebenen rein, ich hatte es bereits schon einmal aufzufächern versucht (Link). Ach, wenn das mal reicht!

Hier das Parallelgeschehen, ich zähle jetzt lieber nicht mit: Rede hören, Grob­ana­lyse, im Kopf übertragen, sprechen, sich selbst zuhören, ob der Satz Sinn macht, gegebenenfalls ergänzen. Dann noch Pult bedienen, kurz davor ent­schei­den, in welche Sprache es jeweils gehen soll, von floor auf "Relais" schal­ten, wenn ein Pole oder ein Italiener das Wort ergreift, atmen, schlucken, Au­gen­li­der betätigen, sitzen, verdauen, ab und zu etwas trinken.

Dann Dolmetschspezifisches: Zahlen aufschreiben (oder aufschreiben lassen), le­sen, welchen Eigennamen die Kollegin/der Kollege für einen notiert hat, viel­leicht auch noch eine Vokabel aufschreiben. In den ersten Berufsjahren oder bei großen Berühmtheiten oder bei Live-Sendungen sicher auch nach Jahren noch: mit Lam­pen­fieber kämpfen, merken, dass man dolmetscht, sich verbieten darüber nach­zu­den­ken, dass man dolmetscht.

Wasserglas und Notizzettel Aber, oh Schreck, ich kann mit der Liste wieder von vorne anfangen. Unter Punkt eins hatte ich ja angeführt: "Rede hören", Punkt zwei war die "Grob­analyse". Eigentlich müssten hier drei Punkte stehen: 1. Zuhören, 2. das Gesagte in seiner Gesamtheit erfassen, 3. einzelne Begriffe oder Redewendungen iden­ti­fi­zie­ren.

Beim Übertragen wähle ich die in der Zielsprache am naheliegensten Begriffe, um das Verständnis zu erleichtern, verabschiede mich hier von einer Redewendung, dort von einem Bild, das eine Vokabel transportiert, ich nenne nur das Wort "Ein­sicht" als 'der Blick in etwas hinein'. Aber dort, wo es auf die Nuancen ankommt, Zitate von Aussagen anderer, Stichworte, die über einen, zwei Konferenztage immer wieder hochkommen, Fachtermini, Kürzel wie WTO (word trade or­ga­ni­za­tion) und OMT (organisation mondiale de travail), hier muss ich ganz genau sein.

Das schießt mir also als mögliche Antwort durch den Kopf. Bevor unser Zielohr den Flieger verpasst, sage ich lieber lachend: "Wir wissen auch nicht, wie das funk­tion­iert!" und habe damit sogar die Wahrheit gesagt.

Bon voyage, Monsieur ! 

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Fotos: C.E.

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