Donnerstag, 31. Januar 2013

Eiswürfel im Fluss

Hallo beim Blog einer Dolmetscherin und Übersetzerin! Hier schreibe ich re­gel­mä­ßig über unseren sprachbetonten Arbeitsalltag. Vor der Berlinale antworte ich auf Fragen, die mir meine Leser zusenden (Adresse steht rechts). "Wie funktioniert Lernen? Haben Sie aus Ihrem Leben ein konkretes Beispiel dafür?" möchte Antonia aus Hamburg wissen.

Lernen geht durch Andocken an Bekanntes, durch Selbermachen, durch Ver­knüp­f­ungen, Eselsbrücken und schräge Bilder. Außerdem lerne ich, weil ich verschiedene Sinne nutze. Einfaches Beispiel: Ich höre auf dem MP3-Player französische Radio­sendungen zu Themenfeldern, die ich vorher durch geschriebene Texte kennen­gelernt und zu denen ich mir dann eine Vokabelliste (Lexik) erarbeitet habe. Das mache ich oft beim Spaziergang in meiner Nachbarschaft. Und manches neue Wort liegt buchstäblich am Wegesrand.

Sonntag haben wir noch Schlittschuhläufer und Eiswanderer auf dem Landwehr­ka­nal beobachtet, gestern trieben die restlichen Schollen das Wasser hinunter. Das sah ungefähr so aus, wie es mein Nachbar Matl Findel es vor Jahren mal fo­to­gra­fiert hat.

Von einer Dachetage aus fotografierte Häuserreihe, zu deren Füßen auf dem Kanal dicke, in Form und Größe unterschiedliche Schollen treiben.

So sah es Mitte März 2006 hier auch aus, also sechs Wochen später im Jahr! Damals schrieb ich diese Worte:

endlich frühling 

im morgenlicht treiben die letzten schollen
des winters den landwehrkanal hinunter.
auf der größten sitzen zwei enten und
segeln flussabwärts im dunklen kleid.
auf der zweitgrößten sitzt ‘ne möve
und putzt sich ihr gefieder blank.
das weiß ihres kleides schmerzt
meinen müden augen sehr.
die dritte scholle indes ist
nur noch ein splitter.
darüber die weide
trägt plötzlich
zartgelben
flaum.

Konkrete Poesie stand bei uns Kindern der 1970-er Jahre in den Schulbüchern und in den wunderbaren Jahrbüchern des Beltz & Gelberg-Verlags. Wir haben damals in der Schule auch selbst konkrete Poesie fabriziert, ich erinnere mich an einen Text über Tischtennis, da gerieten die Worte ins Fliegen.

An der Uferpromenade fällt mir das Ende des Eisschollentextes ein. Ich suche mit den Augen nach den Trauerweiden. Und ja, die Ästchen sehen hellgrün bis gelb aus, bei beiden Weiden, die ich erkennen kann. Dann sucht der Kopf nach einer Übersetzung für "Eisscholle" ... ich erwäge bloc de glace, denke aber dann doch eher an ein größeres Exemplar. Wieder zuhause klärt mich das Wörterbuch auf. Meine Variante wird aufgeführt, daneben steht plaque de glace flottante, das leuchtet ein, schwimmende Platte, das plaque kommt auch in Plattentektonik vor.

Und dann muss ich grinsen, denn ich lese: le glaçon (in einem Fluss). Es ist das gleiche Wort, das ich verwende, wenn ich einen Drink mixe: "Mit oder ohne Eis­wür­fel?"

Und ich sehe den Fluss mit seinem merkwürdigen Grün (Algen unter dem Eis?) als einen Drink, als einen smoothie mit kleingemixter Petersilie, in einem länglichen Gefäß, in das jemand mit einer riesigen Hand einige Glaswürfel fallen lässt!

Diese Vokabel habe ich jetzt für immer gelernt.

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Foto:
Matl Findel (nochmal vielen Dank!)

1 Kommentar:

Vega hat gesagt…

Hi Caro,

vielen Dank für Deine bilderreiche Erklärung. Naja, von acht Grad minus auf acht Grad plus in drei Tagen, das kann nicht gesund sein!

Bald isses wieder kalt! Auf der Berlinale werden alle frieren, wie jedes Jahr!

Bis nachher,
Bine