Dienstag, 23. Oktober 2012

Bildungsoptimismus

Willkommen, bienvenue, welcome auf den Seiten meines digitalen Arbeitstagebuches. Ich dolmetsche und übersetze für Politik und Wirtschaft, Kultur und Medien und Soziales aus dem Englischen und bilateral Deutsch/Französisch. Hier denke ich unter Wahrung der Berufsgeheimnisse über unseren Arbeitsalltag nach ... und was uns Dolmetscher auszeichnet.

Neulich sollte ich mein Motto angeben. Neulich, das war bei der Vorstellungsrunde einer Fortbildung, bei der wir Teilnehmer uns über ein Kinderfoto, eine Handschriftprobe und das Motto vorstellen durften. Motti habe ich einige: life is too short for bad films, "carpe diem" und meinen persönlichen Anker für konzentrierte Dinge, "ginkgo biloba". Die Blätter dieses Baumes mag ich sehr gern, schon mit sieben entdeckte ich bei einer Reise nach Weimar die Verse, die Goethe ihnen gewidmet hat. Zum Glück hatte ich für die Fortbildung ein Kinderfoto von genau dieser Reise herausgesucht.

Kleinkind (noch mit Windelpaket) sitzt auf dem Sofa und liest, die Beine auf den Tisch gelegt. Es scheint dem Fotografen etwas sagen zu wollen. Auf dem Sofarand sitzen Puppen und Teddys.
Das Foto ist noch älter als jene aus
Weimar. Leseratte seit Kindertagen ...
Der Ginkgo-Baum hat mich schon immer fasziniert. Später, in meinen jugendlichen Protestjahren, merkte ich mir prompt, dass nach Abwurf der Atombomben in Japan die Ginkgos die einzige Baumart waren, die im Jahr danach wieder ausschlugen.

Und der weltbeste Patensohn erzählte letztens beim Parkspaziergang ein Detail aus seinen Zeitreise-Krimis, dass nämlich die Früchte der weiblichen Ginkgo-Bäume sehr übelriechend seien.

So kam es, dass der junge Mann Anfang der vierten Klasse erneut mit Goethe konfrontiert wurde. Meine Freude zu sehen, wie er sich darüber freute, war riesengroß (Trick: Lyrik als Rätsel präsentieren).

Dieser Bildungsoptimismus zeichnet mich nach der Einschätzung meiner Freunde aus. Und so kam es, dass ich im Laufe der Fortbildung immer wieder auf die Wand mit den Motti schaute und gar nicht überrascht war, als wir am Ende uns weitere überlegen durften. Ich notierte: "Wenn Du in einem Bereich Meister geworden bist, suche Dir einen anderen, um als Schüler nochmal neu anzufangen."

Warum ich Sie oder Dich hier heute daran teilnehmen lasse? Weil ich diese Haltung bei den meisten Dolmetschern entdeckt habe, die ich kennenlernen durfte. Wir sind Dauerlerner, Wissensjunkies, an sehr vielem in der Welt interessiert (sicher auch, weil es eine Grundvoraussetzung dafür ist, sich ständig in neue Themen einzuarbeiten).

Andersrum gesagt, weil ich weiß, dass hier etliche Schüler und Studenten auf Berufsfindungsweg mitlesen: Wer das nicht so in dem Maße ist, sollte sich in anderen Bereichen umschauen.

Mal sehen, was ich in dieser nicht mehr ganz neuen "Saison" (cf. la rentrée) alles noch berufsbedingt hinzulernen darf. Und privat: Ich habe Malen und Zeichnen wiederentdeckt und finde großartig, wie schwer es mir noch fällt.

______________________________
Foto: Privat

Keine Kommentare: