Mittwoch, 4. Juli 2012

Gehbier

Hello, guten Tag, bonjour ... beim Dolmetscherblog aus Berlin, dem ersten virtuellen Arbeitstagebuch Deutschlands über Dolmetschen und Übersetzen aus dem Inneren der Kabine bzw. vom Übersetzerschreibtisch. Hier denke ich über die Sprache nach. (Anfragen zu Übersetzungen und Dolmetscheinsätzen in Berlin für die Zeit nach dem 16.7.2012 erreichen mich derzeit am besten per Mail.)

Aus Pappe ausgeschnitten und bemalt: Mann in Unterhemd, Trainingshose und Badelatschen steht vor der "Trinkhalle" und kippt ein Bier
Zum Genuss eines Gehbiers genügt es, ein Bier in der Hand zu haben und seine Beine zu benutzen. Schon wird aus jedem beliebigen Gerstensaft ein Gehbier. Anders erklärt: von Stehtisch im Stehcafé über Stehbier war der Weg zum Gehbier kurz. Das Gehbier liegt auch nicht am vermeintlich anderen Ende dessen, was einst der Gehrock als soziale Gruppe auszeichnete: Nahezu alle Schichten wurden zumindest in Berlin schon mit Bier in der Hand gesichtet. Das macht die Sache ja so irritierend. Anders als in den USA muss der Flaschenbauch von Alkoholika hierzulande auch nicht in einem braunen Recycling-Tütchen verschwinden.

Wer das ostentative Herumtragen von Hoch- oder Mittelprozentigem zum ersten Mal beobachtet, zum Beispiel jemand aus der Provinz, meint auf den ersten Blick, lauter Alkoholiker zu sehen.
Das Gehbier scheint als Sitte direkt von Spanien abzustammen, wo schon in den Nuller Jahren die Mieten hoch, die Einkommen besonders der Berufsanfänger niedrig (und feste Stellen schon damals nicht ausreichend vorhanden) waren. Die spanische Jugend behalf sich (vor allem am Wochenende) mit Parties auf der Straße, dem botellón ("große Flasche").

Meinen Beobachtungen nach wird das Gehbier auch in Deutschland gerne vor dem Besuch von Parties oder Lokalitäten konsumiert. Es gibt sogar ein Verb dafür: vorglühen.

Aus Pappe ausgeschnitten und bemalt: Mann auf dem Rad, das viele Flaschen transportiert, darauf ein Schild: "King of the bottles"
Mit botellón und Gehbier ist der Flaschensammler eng verknüpft, der wiederum nicht von Hartz IV getrennt werden kann, mitunter auch böse HIV abgekürzt, was nicht zufällig wie das Kürzel der Autoimmunkrankheit gleichen Namens aussieht. Etliche, die mit dem Existenzminimum überleben müssen, "stocken" mit Flaschenpfand auf.

Und so scheppert es seit zwei, drei Jahren in der wärmeren Jahreszeit am späten Abend und vor allem nachts, wenn draußen Sammler mit Hackenporsche oder Fahrrad unterwegs sind, in Straßen wie der unseren laut und gläsern. Früher gehörte das Geräusch zum Tag, das früher die-emsige-Hausfrau-geht-in-die-Kaufhalle hieß, jetzt ist es ein von beiden Geschlechtern produziertes Rund-um-die-Uhr-Geräusch.

Das alles sind Klänge, Begriffe und Begleiterscheinungen der Krise.

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Fotos: C.E. / Staatsgalerie Neukoelln
(Eine Ausstellung in der U-Bahnstation
Hermannplatz, die einen Umweg lohnt!)

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