Sonntag, 19. September 2010

Lyrik übersetzen

Dolmetscher und Übersetzer brauchen einen Schreibtisch, denn meist steckt hinter dem locker Vorgetragenen oder leicht Lesbaren zähe, kleinteilige Arbeit. Mein Schreibtisch steht in Berlin - hier gewähre ich mal wieder einen Blick darauf.

Darf ich zu Wochenanfang kurz mal böse sein? Lyrik ist unübersetzbar! Dennoch bekommen wir manchmal Aufträge dieser Art. Lyrik kann nur nachgedichtet werden, und dieses Nachdichten gleicht oft mehr einem Nachbauen. Ich wühle mich dann stunden- bis tagelang durch virtuelle und real existierende Wörterbücher (sehr beliebt ist in dem Zusammenhang auch das Synonymwörterbuch), lese laut, zähle Silben, markiere, kopiere, lösche, lese wieder laut ... und beschimpfe mich gelegentlich selbst ob meiner |Kühnheit| Blödheit, eine Lyrikübersetzung anzunehmen. Denn Lyrik ist unübersetzbar, sagte ich das bereits?

An dieser Stelle unterbreche ich den Eintrag und hebe zu einer privaten Lobhudelei an. Zum Glück ist mein Nachbar, den ich hier grüßen möchte, oft tags nicht da und ansonsten sehr verständnisvoll. Da er auch oft im Bereich Medien und mit Sprache zu tun hat, bietet unser paralleles Arbeiten, wenn er dann doch mal wieder unter der Woche oder auch am Wochenende sein Arbeitszimmer nutzt, eindeutig Großraumbüroatmosphäre, wenn Sie verstehen, was ich meine. Uns trennt eine nichttragende Altbauwand. Einschub zuende.


Auch wenn alles sehr langsam ging mit dem Gedicht von Louis-Philippe Dalembert, die Arbeit hat Spaß gemacht. Dabei ist der eigene Perfektionismus immer Teil der Problemlage. Es gibt einen Moment, da muss ich zu mir selbst ein Machtwort sagen wie gut genug für jetzt und meine Möglichkeiten und basta!

Viele Jahre hatte ich keine Lyrik mehr übersetzt. In den 1990-er Jahren gab's mal eine Phase, in der ich zusammen mit einem französischen Übersetzer, der seit Jahrzehnten in Berlin lebt, Texte von Ernst Jandl, Oskar Pastior, Olivier Cadiot und Valère Novarina ins Deutsche bzw. Französische übertragen habe. Allerdings sah ich erst viel später das eine oder andere davon auch gedruckt - und war etwas überrascht, weil unter "Übersetzer" nur sein Name stand. Irgendwie folgerichtig, denn wenn's Honorar gegeben haben sollte, war es nur an ihn gegangen ... :-(
Jetzt stecke ich unversehens mitten in der zweiten Abschweifung, die ich rasch beenden möchte. Da Monsieur auch einige meiner Gedichte grandios und zum Freundschaftspreis übersetzt hatte, grub ich das Kriegsbeil gar nicht erst aus.
Und weil ich die Hintergründe dessen, was mir widerfuhr, nur zu gut kenne (nur die Seite, von der es mich traf, tat sehr weh).

Das Problem der Lyrikübersetzung ist das gleiche, wie das der Übersetzung anspruchsvoller Literatur, nur noch 'nen Zacken schärfer: Die Übersetzung bezahlt in der Regel der Übersetzer selbst, der Verlag steuert lediglich einen Zuschuss zu den Kosten für Papier und Essen bei, um's etwas überspitzt zu sagen.
Das war jetzt nicht mal böse gemeint, sondern beschreibt die Realität in einem Land, in dem so viel Literatur übersetzt wird wie sonst nirgendwo in der Welt. Und da sich auch im Bereich Literatur unser Kulturbetrieb immer mehr Richtung Event- und Jahrestagskultur entwickelt, verdanke ich die aktuelle Übersetzungserfahrung dem Berliner Literaturfestival ILB. Ohne diesen Auftrag wäre der Text vermutlich nicht bearbeitet worden.

Aber Lyrik bleibt unübersetzbar. Diese Arbeit kommt mir immer vor wie Bastelei. Oder Intarsien fertigen: Ich schneide zu, lege an, schau, ob's passt, verändere, klebe hinein, retuschiere mit dem Pinsel, schmirgle, schmirgle nochmal, puste den Staub weg, trage Schelllack auf. Am Ende soll das Werkstück in seiner kopierten Form den gleichen Eindruck vermitteln, wie das Original. 

P.S.: Warum ich da oben la soif (Durst) mit Hunger (la faim) übersetze? Lebenshunger heißt la soif de vivre ...


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Foto: Arbeit an  der Übertragung von
Transhumances, Louis-Philippe Dalembert,
Riveneuve éditions, Paris 2010.

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