Montag, 17. November 2008

Kuchen spüren

Nach manchen Dolmetscheinsätzen entwickle ich das Talent zum Synästhetiker - so werden Menschen genannt, die Farben schmecken, Gemälde hören, Klänge bunt sehen.

Früher Nachmittag: Ich komme vom dreistündigen Simultaneinsatz zurück (zu zweit natürlich) plus Mittagessen, Tischgesprächen und zweisprachiger Busfahrt durch Berlin. Gehe zu den Kuchenbäckerinnen, will mich mit Kuchen eindecken. Weiß, gleich kommt Besuch. Dann fällt mir ein, dass ich ja selbst zum Wochenende buk. Also nur wenig kaufen, um das Angebot bunter werden zu lassen. Aber was hab ich nochmal gebacken? Es will mir nur "hell" einfallen. Heller Kuchen? Weißgelb. Ich fühle "Käsekuchen", seine Konsistenz, seinen Geschmack, Zitrone. Aber so viel Zitrone, wie ich verbacken habe, da wäre die Milch gestockt. Also kein Käse- sondern Zitronenkuchen. Erst dann kann ich kaufen.

Auf dem Weg nach Hause sehe ich die Bilder der Kuchengedanken vor meinem geistigen Auge nochmal durch und weiß, dass alles nonverbal war. Ich habe Kuchen gesehen und die Bewegung der Gabel durch weißgelbe Kuchen gefühlt. Durch die verschiedensten hellen Kuchen. Wo ich schon mal auf der Metaebene bin, fällt mir auf, dass ich mich als Teil der Warteschlange wunderte, dass ein Kurierdienstmitarbeiter beim Abgeben eines Päckchens die Bäckerin geduzt hatte. Auch hier: meine Gedanken waren wortlos. Das Duzen ist leicht erklärt, beide sind um die 20. Im diplomatischen Kontext meines Vormittags schien es mir außergewöhnlich bemerkenswert, dass sich wildfremde Leute duzen. Das Gefühlsmuster, das hier in mir angesprochen wurde, war die größtmögliche emotionale Distanz mit dem Geschehenen, wie, als zöge ich mich in mich selbst zurück, als wolle ich mit alldem Ungehörigen hier nichts zu tun haben. Ich war plötzlich nicht mehr Teil der Schlange.
Zu Hause koche ich Tee. Das Radio läuft, RFI, französisches Programm, ein Bericht über etwas Industrielles, eine Autowerkstatt, ich hör nicht hin. Ich blicke ins Licht, freu mich des Nachmittags. Dann mache ich Gas unter dem Kessel an - und rieche plötzlich Motorenöl, schmecke Eisen, habe den Aroma von Gummi in der Nase. Eindeutig!

Meine unwissenschaftliche Interpretation: Der Körper riecht einen kurzen Augenblick das mit Zwiebelgeruch versetzte geruchlose Gas, ist nicht völlig aufmerksam, assoziiert daher über das akustisch Vernommene.

Dolmetschen ist geistige Hochleistungsarbeit und wenn Sie Dolmetscher fragen, wie wir das machen, sagen viele vielleicht sogar, was ich Ihnen jetzt sage: Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass sich Wahrnehmungsmuster verschieben, und zwar deutlich. Nach einem Mittagsschläfchen ist alles wieder OK.

1 Kommentar:

Anonym hat gesagt…

Das ist ja echt witzig!
Apropos Kuchenbäckerinnen: Wäre es nicht mal wieder Zeit für ein Treffen unter dem Regenbogen?
Liebe Grüße!